Gerade noch lebte Jolie* bei ihrer Mama. Und klar ging es Mama oft nicht gut. Sie hat Alkohol getrunken oder Tabletten genommen, die sie ganz müde gemacht haben. Jolie musste sich dann immer selbst um ihr Abendessen kümmern oder daran denken, morgens rechtzeitig in die Schule zu gehen. Aber dass sie jetzt nicht mehr zu Hause wohnen soll, versteht die Sechsjährige trotzdem nicht. Eine Frau vom Jugendamt hat ihr erklärt, dass ihre Mama erst einmal für lange Zeit ins Krankenhaus muss, um wieder gesund zu werden. Vielleicht kann Jolie in ein paar Jahren zurückziehen. In der Zwischenzeit darf sie in einer Wohngruppe des Kinderdorfes wohnen.
Dort sind zwar alle nett zu ihr, aber irgendwie hat sie trotzdem Angst vor der neuen Umgebung. Außerdem vermisst Jolie ihre Mama schrecklich. Sie wollte nicht weg von Zuhause. Sie hat doch versucht, alles richtigzumachen. Bestimmt hat sie etwas falsch gemacht. Sie ist wütend – auf alle und alles, auch auf sich selbst.
„Alle diese Gefühle sind in Ordnung“, sagt Angelika Welke, die Bereichsleiterin im Kinderdorf Sachsen. „Es ist völlig normal, die Eltern zu vermissen. Kinder sind ihren Eltern gegenüber loyal, auch wenn ihnen sehr schwierige Dinge widerfahren sind. Wut, Angst, Scham und jede Menge Schuldgefühle dürfen sein. Wir nehmen die Kinder in all diesem Gefühlswirrwarr ernst und versuchen, sie pädagogisch, menschlich und auch therapeutisch darin zu begleiten.“
Angelika Welke erklärt: „Gefühle zu erkennen und zu benennen, fällt ja selbst vielen Erwachsenen schwer, die keine traumatischen Erfahrungen gemacht haben. Wir versuchen den uns anvertrauten Kindern also frühzeitig zu vermitteln, dass jedes Gefühl da sein darf und ihnen Wege aufzuzeigen, auch mit negativen Gefühlen umzugehen. Das kann die Basis sein, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit zu entwickeln und die „schweren Rucksäcke“ irgendwann leichter werden zu lassen.
Dieser Artikel erschien in unserem KINDERLAND 01/2024.
*Name zum Schutz des Kindes geändert.