Alexa war sieben Jahre alt, als sie und ihr kleiner Bruder vom Jugendamt aus dem Kindergarten abgeholt wurden. Die Erzieherin hatte bemerkt, dass die Eltern mit der Erziehung der beiden Kinder überfordert waren. Nach einer kurzen Unterbringung im Heim startete die Familie einen neuen Versuch bei einer Mutter-Kind-Kur – doch der scheiterte. Alexa und ihr Bruder kamen ins Albert-Schweitzer-Kinderdorf nach Steinbach bei Moritzburg, wo sie Liebe, Schutz und Geborgenheit erfuhren und lernten, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.

Alexa ist 17 Jahre alt. Sie schaut gern Netflix, näht und malt in ihrer Freizeit und sammelt leidenschaftlich gern Nagellack. Sie achtet auf ihr Äußeres, hat einen Freund und möchte bald eine Ausbildung beginnen. Auf den ersten Blick unterscheidet sie nichts von anderen Mädchen in ihrem Alter. Erst, wenn sie ins Erzählen kommt, merkt man, dass ihr Start ins Leben holpriger ausfiel, als der der meisten anderen Kinder. „Ich kann mich nur noch dunkel daran erinnern, wie es war, als ich ins Kinderdorf kam“, sagt Alexa. „Meine Mama war damals nicht in der Lage, sich ausreichend um uns Geschwister zu kümmern. Kurz nach meinem siebten Geburtstag kamen mein Bruder und ich dann – über einen kleinen Umweg im Heim – hierher.“ Ein Zufall wollte es so, dass in einer Wohngruppe im Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Steinbach gerade zwei Plätze frei waren.

„Es ist für das Jugendamt oft gar nicht so einfach, Geschwisterkinder an Pflegefamilien zu vermitteln“, sagt Sylvia Plättner, die Geschäftsführerin des Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Sachsen e. V. „Viele Menschen, die sich als Pflegeeltern zur Verfügung stellen, möchten nur ein Kind aufnehmen. Es wird aber immer versucht, Geschwister möglichst nicht zu trennen. In unserem Kinderdorf können bis zu sieben Kinder in einer Familie oder Wohngruppe aufwachsen.“ Ein weiterer Vorteil: Die Hauseltern sind ausgebildete Pädagogen. Und: Sie erhalten Unterstützung von fest angestellten Erziehern und Hauswirtschaftskräften. Die Betreuung der Kinder erfolgt also einerseits in einer familiären Atmosphäre und ist gleichzeitig ebenso professionell wie in anderen stationären Einrichtungen.

„Das war die beste Chance meines Lebens“

Alexa kam in eine Wohngruppe, deren Leiterin Grit sie heute wie eine zweite Mama ansieht. „Ich habe aber auch sehr engen Kontakt zu meinen leiblichen Eltern. Es ist so, als hätte ich zwei Familien. Und die im Kinderdorf ist wie eine Familie, die man sich aussuchen kann“, lacht die Siebzehnjährige. Alexa hat noch zwei jüngere Geschwister, die allerdings seit ihrer Geburt bei den Eltern leben. „Eifersüchtig bin ich deshalb gar nicht“, sagt sie. „Ich habe hier eine unglaublich tolle Chance bekommen, mich zu entwickeln. Wer weiß, ob alles so gekommen wäre, wäre ich bei meinen Eltern aufgewachsen. Ich habe mich weiterentwickelt und auch meine Eltern haben das: Sie haben so viel dazugelernt und sind vermutlich auch deshalb inzwischen in der Lage, sich um meine beiden kleineren Geschwister zu kümmern, als sie es noch vor zehn Jahren waren.“

Dass das Verhältnis zwischen den Kinderdorfkindern und deren leiblich Eltern bestehen bleibt, dafür sorgt der Verein gemeinsam mit dem Jugendamt. „Es gibt feste Besuchsregelungen und sogenannte Hilfeplangespräche“, sagt die Geschäftsführerin. „Es ist wichtig, dass der Kontakt zu den Eltern nicht abbricht und die Kinder wissen, wo ihre Wurzeln sind.“ Sie fügt aber hinzu: „Dass die Zusammenarbeit mit den Herkunftseltern nicht immer so klappt, wie wir es uns wünschen, müssen wir aushalten.“

Alexa wird erwachsen

Mit ihrem 18. Geburtstag endet automatisch die Hilfe des Jugendamtes. Alexa wird das Kinderdorf verlassen müssen. „Ich bin traurig, bald nicht mehr hier zu wohnen“, sagt sie. „Ich werde meine Erzieher und Dorfgeschwister unglaublich vermissen und so oft es geht besuchen.“ Doch die toughe junge Frau hat schon Pläne für die Zukunft geschmiedet: „Bis Ende August absolviere ich noch mein FSJ bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Danach hänge ich meinen Bundesfreiwilligendienst in einem Dresdner Krankenhaus ran und anschließend klappt es hoffentlich mit der Ausbildung zur Kinderkrankenschwester.“
Angst vor dem Auszug hat sie nicht. „Ich wohne schon seit fast einem Jahr in der Einliegerwohnung des Kinderdorfs und übe das Alleine sein.“ Dazu gehört auch selbst einzukaufen, Wäsche waschen und, wenn sie krank ist, zum Arzt zu gehen. Nur vor dem großen Berg Papierkram fürchtet sie sich ein wenig. „Was man da alles ausfüllen und beantragen muss: Strom, Wasser, Versicherungen, Telefon, Internet … Aber mein Freund kriegt es ja auch hin“, lacht sie. „Außerdem weiß ich, dass die Erzieher immer für mich da sein werden. Auch, wenn es kein Geld mehr dafür gibt.“

„Das normalste der Welt“

Gemobbt oder ausgegrenzt wurde Alexa wegen ihrer Herkunft nie. „Ich habe auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, wo ich aufgewachsen bin. Warum auch? Jeder spricht doch über seine Familie. Für mich ist es das normalste der Welt – so, als würde ich über das Wetter reden. Das einzige Vorurteil, was mir immer entgegenschlägt, ist der Satz ‚Echt? Du kommst aus einem Kinderdorf? Das merkt man dir gar nicht an!‘ Da muss ich immer lachen. Wie sieht denn ein Kind aus, dass im Kinderdorf aufgewachsen ist?! Aber solche Kommentare sind vermutlich normal.“

Ein Interview mit Alexa erschien am 24.09.2019 auf unserer Homepage und ist hier zu finden.